„PISA hat uns einen ganz klaren Auftrag mitgegeben” 

    Von Karolina Pajdak 

    Berlin – Sie ist die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) 2024 und die Themen, die Christine Streichert-Clivot (43, SPD) auf dem Zettel hat, sind nicht wenige! Im Interview mit PROFIL spricht die saarländische Kultusministerin über die Konsequenzen aus der PISA-Studie, den Lehrkräftemangel und wie sie begabte Schülerinnen und Schüler fördern will. 

    PROFIL: Ministerin Streichert-Clivot, Sie sind seit Beginn des Jahres die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Ihre Präsidentschaft widmen Sie dem Thema: „Bildung in Zeiten des Wandels – Transformation mutig gemeinsam gestalten“. Was konkret meinen Sie damit?  

    Christine Streichert-Clivot (43, SPD) ist seit Anfang 2024 Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK). Seit 2019 ist sie Ministerin für Bildung und Kultur im Saarland. Credit: Holger Kiefer

    Christine Streichert-Clivot: Unser Bildungssystem steht vor einer Vielzahl komplexer und miteinander verflochtener Probleme, die eine ganzheitliche und kooperative Herangehensweise erfordern. Isolierte Maßnahmen werden diese Herausforderungen nicht einfach lösen können. Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt unseres Handelns. Bildung braucht jetzt ein gut abgestimmtes Zusammenspiel aller Akteure, und auch den Mut neue Wege zu gehen. Deshalb haben wir uns als Saarland für die Präsidentschaft auch kein fokussiertes Einzelthema gesetzt, sondern eine Leitidee für zukünftiges bildungspolitisches Handeln formuliert: Bildung in Zeiten des Wandels  Transformation mutig gemeinsam gestalten”.  

    Leitidee statt Einzelthema 

    In einer Zeit, in der sich die KMK genauso im Umbruch befindet wie unser Bildungssystem, in der wir an verschiedenen Stellen ansetzen müssen und nicht das eine Rezept, die eine Lösung existiert, wollen wir an mehreren Stellen ansetzen, um neue Wege für gute Bildung von Anfang an zu ermöglichen. Mutig zu sein, heißt für mich, neue Wege zu denken und nicht immer die gleichen Antworten zu finden. Als Präsidentin der KMK habe ich mir klare Ziele gesetzt, die ich umsetzen möchte. Im Zentrum steht, Kinder und Jugendliche zu stärken!  

    PROFIL: Der Deutsche Philologenverband erwartet, dass sich die Kultusministerkonferenz vor die Lehrkräfte stellt, wenn Andreas Schleicher in seiner Funktion als PISA-Koordinator deutsche Lehrkräfte als Befehlsempfänger, die zu viel jammern und die sich stattdessen ein Beispiel an japanischen Lehrkräften nehmen sollen, beschreibt. Wo ist der Zusammenhang mit den aktuellen PISA-Daten? Was sagen Sie dazu, Ministerin Streichert-Clivot?  

    Ministerin Streichert-Clivot: Ich selbst nehme unsere Lehrkräfte als engagiert und willens wahr, den Schülerinnen und Schülern in Deutschland ihr Wissen zu vermitteln. Nicht vergessen dürfen wir dabei, dass unsere Bildungslandschaft, aufgrund der vielfältigen und teils rasend schnellen Transformationsprozesse unserer Gesellschaft, mit diversen Ansprüchen und Erwartungshaltungen konfrontiert ist. Schulen müssen heute viel mehr leisten als noch vor einigen Jahren. Schülerinnen und Schüler verbringen hier einen großen Teil ihres Tages und erleben Höhen und Tiefen ihrer Jugend und ihres Erwachsenwerdens in der Schule.  

    Aufstieg durch Bildung muss funktionieren 

    Ministerin Streichert-Clivot beim Schulbesuch

    Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot bei einem Schulbesuch an der Grundschule Altenkessel in Saarbrücken. Credit: Cuvée – Die Werbewinzer

    Lehrkräfte sind mehr als nur Wissensvermittlerinnen und Wissensvermittler. So berechtigt viele der Anliegen auch sein mögen, dürfen wir dabei die Menschen nicht aus dem Auge verlieren, die mit der Umsetzung betraut werden. Unsere Lehrkräfte dürfen, sollen und müssen auf Überlastung und Überforderung hinweisen, wenn und wo sie stattfindet. Es hilft niemandem, wenn sie aus Angst stillschweigend weiterarbeiten und am Ende ausbrennen oder den Dienst quittieren. Die Kritik von Herrn Schleicher und die sich daraus resultierende Debatte werfen aber wichtige Fragen auf: Was müssen Lehrkräfte und die Schule allgemein heutzutage leisten? Für Schülerinnen und Schüler, für Eltern, für die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes? Hier treffen viele verschiedene Sichtweisen aufeinander. Dieser Debatte müssen wir uns stellen und zwar gesamtgesellschaftlich. Pisa hat uns einen ganz klaren Auftrag mitgegeben: Wir müssen den Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft reduzieren. Das Versprechen des Aufstieges durch Bildung muss eingelöst werden. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir ein mutiges Miteinander, statt mit Vorurteilen Lösungsprozesse zu hemmen. Jeder im System Bildung muss sich fragen: Werde ich mit meinem Tun den Anforderungen an Transformation gerecht, die derzeit an unser Bildungssystem gestellt werden? Ich sehe insgesamt eine hohe Motivation für Veränderungen. Diese gilt es aufzunehmen.  

    PROFIL: Wir erleben im Schulalltag immer wieder, dass der Begriff Leistung inzwischen mancherorts negativ besetzt ist. Was kann die KMK was können Sie dafür tun, damit leistungsstarke Schülerinnen und Schüler gefördert werden?  

    Ministerin Streichert-Clivot: Bildungsgerechtigkeit bedeutet, alle Kinder und Jugendliche mit ihren Talenten, Potentialen, Fähigkeiten und Kompetenzen ganzheitlich zu fördern – und sowohl leistungsschwächere als auch besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in den Blick zu nehmen. Niemand möchte Kindern und Jugendlichen, die viel Spaß am Lernen haben und durch Arbeit und Fleiß gute Noten schreiben, Steine in den Weg zu legen. Deshalb haben die Länder im Jahr 2016 die KMK-Initiative Leistung macht Schule” (LemaS) ins Leben gerufen, um die Förderung von begabten Schülerinnen und Schülern neu zu gestalten. Durch LemaS haben wir ein gemeinsames Projekt entwickelt, das dazu beiträgt, besonders talentierte Schülerinnen und Schüler zu erkennen und an Regelschulen einen Raum zu schaffen, der ihre individuelle Selbstentfaltung und Entwicklung unterstützt.  

    PROFIL: Sehen Sie unsere Abiturientinnen und Abiturienten adäquat auf ein Hochschulstudium vorbereitet?  

    Streichert-Clivot: Das ist eine Frage, die sich so pauschal nicht beantworten lässt. Die Herausforderungen, die mit dem Beginn des Hochschulstudiums einhergehen, gehen weit über die reine Frage der Studierfähigkeit hinaus. Jeder einzelne Schritt in diesem Prozess bringt individuelle Herausforderungen und Erfahrungen mit sich. Wir sehen, dass immer mehr Studierende ihr Studium vor Abschluss abbrechen, mit Abbruchraten von 35% an Universitäten und 20% an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Diese steigenden Zahlen und die zunehmende Notwendigkeit von Vor- oder Brückenkursen für Studienanfängerinnen und -anfänger deuten auf ein klares Passungsproblem hin. Es ist wichtig zu betonen, dass dies nicht nur auf bisher erworbene Kompetenzen zurückzuführen ist, sondern auch auf individuelle Faktoren.  

    PROFIL: Zum Beispiel? 

    Ministerin Streichert-Clivot: Herausforderungen, wie zum Beispiel der Frage des Lebensunterhalts. Wenn man sich, neben dem Studium, noch Gedanken machen muss, wie die Miete bezahlt wird und ob am Monatsende noch Geld für Essen übrigbleibt, dann hat das natürlich gravierende Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit im Studium. Das Abitur als Allgemeine Hochschulreife im wörtlichen Sinne als eine alleinige Vorbereitung auf das Studium zu verstehen, reicht aus meiner Sicht nicht mehr aus. Es ist entscheidend, ein umfassendes Verständnis von hochwertiger Bildung zu entwickeln, das sowohl die Fähigkeiten für das Studium als auch für den Beruf gleichermaßen fördert. Dabei ist es wichtig, die Vielfalt an Bildungswegen und  -möglichkeiten anzuerkennen und zu unterstützen. Dazu kommt, dass es auch nicht mehr nur einen Weg zum Studium gibt. Im Saarland sind wir gerade dabei, die Übergänge von schulischer Ausbildung und Beruf in ein akademisches Studium weiter zu vereinfachen, so dass auch Menschen im Anschluss an eine Berufsausbildung schneller und leichter studieren können.  

    PROFIL: Eines der drängendsten Themen ist der Lehrkräftemangel. Was tun Sie, damit die Bestandslehrkräfte im System bleiben?  

    Streichert-Clivot: Der anhaltend hohe Bedarf an Fachkräften ist eines der drängendsten Themen der Bildungspolitik und betrifft darüber hinaus nicht nur Schulen, sondern auch die Kindertagesstätten. Die Länder und auch die Ministerkonferenzen KMK und JFMK sind sich einig, dass mehr Fachkräfte in unser Bildungssystem kommen müssen und wir gleichzeitig alles daransetzen müssen, dass bestehende personelle Ressourcen nicht durch fortlaufende Abgänge weiter dezimiert werden. In der aktuellen Lage müssen wir mehrere Strategien gleichzeitig verfolgen. Das beinhaltet die Akquise zusätzlicher Fachkräfte für multiprofessionelle Teams, die Eröffnung neuer Wege in das Lehramt und die verbesserte Anerkennung ausländischer Lehramtsqualifikationen. Dafür müssen wir auf die Ausbildung von Lehrkräften insgesamt schauen.  

    Unzureichende Praxisorientierung 

    Viele Rückmeldungen, die mich erreichen, bemängeln die unzureichende Praxisorientierung in der Lehrkräfteausbildung. Gleichzeitig ist es von entscheidender Bedeutung, die Lehrkräfteausbildung insgesamt flexibler zu gestalten, um den aktuellen Anforderungen besser gerecht zu werden. Dadurch stellen wir sicher, dass weniger angehende Lehrkräfte ihre Ausbildung noch im Studium oder im Referendariat abbrechen, denn jede angehende Lehrkraft, die abspringt, ist eine zu viel. Unser Ziel sollte darin bestehen, mehr talentierte und engagierte Personen für den Lehrberuf zu gewinnen und sie an die Schulen zu bringen. Nur wenn wir die Aufgaben, die alltäglich anfallen, auf mehr Schultern verteilen, werden Lehrkräfte effektiv entlastet.  

    PROFIL: Der DPhV fordert mit Nachdruck, dass die KMK endlich verbindliche Standards für die Qualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigern festlegt. Werden wir das in Ihrer Amtszeit erleben?  

    Susanne Lin-Klitzing (DPhV), Christine Streichert-Clivot, Maike Finnern (GEW), Katharina Günther-Wünsch (Bildungssenatorin in Berlin) und Katja Hintze (Stiftung Bildung, v.l.n.r.) bei der KMK-Präsidentschaftsübergabe in Berlin. Credit: KMK

    Ministerin Streichert-Clivot: Ich kann die Zukunft zwar gestalten, aber leider nicht vorhersagen. Es hat sich allerdings gezeigt, dass allein der Ausbau der grundständigen Studienkapazitäten nicht ausreicht, um den aktuellen zusätzlichen Bedarf an Lehrkräften zu decken. Im Zuge der bereits genannten Maßnahmen zum Umgang mit diesem Bedarf beschäftigen sich die Länder natürlich auch mit der Frage, wie die dahinterstehenden Regelungen ländergemeinsam umgesetzt werden können. Was wir nicht wollen, ist eine Absenkung der Ausbildungsqualität zukünftiger Lehrkräfte. Deshalb achten die Länder ganz genau darauf, dass die Qualität in der Ausbildung nicht aus den Augen verloren wird. Gerade beraten wir in der KMK die Möglichkeit eines Quereinstiegs-Masterstudiengangs (kurz: Q-Master). Diese Alternative zum grundständigen Studium soll nichtsdestotrotz wissenschaftsbasiert und qualitätsgesichert sein sowie klar definierte Zugangsvoraussetzungen haben, worauf sich die Länder derzeit verständigen. Gleichzeitig sind sich die Länder einig, dass diese alternativen Wege in das Lehramt nur als Ergänzung und nicht als Ersatz zum grundständigen Studium zu verstehen sind. Im Rahmen der nächsten KMK-Sitzung Mitte März, werden wir hierüber beraten und uns in bewährter Weise auch mit den Lehrkräfteorganisationen und Gewerkschaften austauschen. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr substanzielle Fortschritte der Länder im Umgang mit der Lehrkräftegewinnung und -qualifizierung sehen werden.  

    PROFIL: Der DPhV spricht sich nachdrücklich gegen ein Arbeitszeitmodell wie in Hamburg aus, dass bundesweit mit zu der höchsten Gruppe an Teilzeitlehrkräften geführt hat. Unsere Stichworte dazu sind: Senkung des Unterrichtsdeputats, Entlastung, Altersermäßigung, Entbürokratisierung – wir wünschen uns, dass Lehrkräfte endlich wieder Zeit für guten Unterricht haben und nicht auch noch die Klassenfahrten abrechnen müssen. Haben Sie dazu Ideen?  

    Streichert-Clivot: Ob es das Hamburger Modell oder andere Faktoren sind, die zu der hohen Gruppe an Teilzeitlehrkräften geführt hat, kann ich nicht einschätzen. Denn die Entscheidung, ob jemand in Teilzeit arbeiten möchte oder muss, liegt bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern selbst und ist immer höchst individuell. Dazu kommt, dass Teilzeit nicht automatisch weniger Belastung bedeutet, denn viele Aufgaben für Lehrkräfte lassen sich nicht teilen, sondern müssen so oder so erfüllt werden. Wir setzen uns als Länder weiterhin für eine Bereichsausnahme im Rahmen der derzeit politisch diskutierten Novellierung des Arbeitszeitgesetzes ein. Gleichzeitig sehen wir aber die Überlastung von Lehrkräften. Als Dienstherr haben wir auch eine Fürsorgepflicht gegenüber unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wenn wir diese ernst nehmen, dann müssen wir Antworten auf diese drängende Frage finden. Deshalb setzen wir uns intensiv mit den von Ihnen angesprochenen Möglichkeiten zur Entlastung auseinander, die jedoch auch finanziell tragbar sein müssen.  

    PROFIL: Der DPhV spricht sich gegen ein duales Lehramtsstudium für das Gymnasium aus. Kann der DPhV dafür auf Ihre Hilfe zählen?  

    Streichert-Clivot: In der KMK sind wir gemeinsam der Überzeugung, dass wir einen stärkeren Praxisbezug in der Lehramtsausbildung brauchen. Wir sind bereits mitten in den Vorbereitungen für gemeinsame Beschlüsse und wir werden diese so gestalten, dass die Länder, je nach Situation vor Ort, weiter handlungsfähig sind, wenn es um die Lehrkräftegewinnung und -qualifizierung geht. Die Stärkung des Praxisanteils in der ersten Ausbildungsphase wird auf jeden Fall ein Thema sein. Das fordern auch junge Lehrkräfte ein. Sie wollen gut vorbereitet sein auf das, was sie in der Schule erwartet. Unter einem dualen Studium verstehe ich, eine stärkere Praxisorientierung schon ab dem ersten Semester. Da hat sich in den vergangenen Jahren schon viel getan mit Praktika und Praxissemestern. Aber in Gesprächen stelle ich fest, dass die Studierenden sich noch mehr wünschen. 

    PROFIL: Welche Wünsche werden an Sie herangetragen? 

    Ministerin Streichert-Clivot: Sie wollen die unmittelbare Konfrontation mit dem Schulalltag. Mit der praxisintegrierten Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher im Saarland gibt es hier auch ein gutes Vorbild. Manche fürchten, es könnten sich durch einen zu frühen Praxiseinsatz ungute Handlungs- oder Arbeitsstrategien verfestigen, bevor sie theoretisch reflektiert werden können. Für mich liegt die Lösung jedoch vor allem in einer sorgfältigen Organisation und einer geeigneten Umsetzung in der Lehrerausbildung. Dabei darf es aber nicht dazu kommen, dass junge Fachkräfte, die sich noch in der Ausbildung befinden, zur Abdeckung von Personallücken genutzt werden. Im Saarland diskutieren wir beispielsweise die Etablierung von Ausbildungsschulen, ähnlich wie es Lehrkrankenhäuser für angehende Medizinerinnen und Mediziner gibt. Das sind Standorte, an denen es Mentorinnen und Mentore gibt, die mit Studierenden und Referendaren zusammenarbeiten und sie so im unmittelbaren Austausch begleiten. Dann – und nur dann – kann ein duales Studium funktionieren, bis hin zu einer vergüteten Variante bereits zu Beginn des Studiums. So weit sind wir aber noch lange nicht. Ich finde es gut, dass der DPhV in Bezug auf das duale Lehramtsstudium eine klare Haltung vertritt und auf dieser Grundlage gemeinsam um den besten Weg ringt. Ich wünsche mir weiterhin einen kritischen und konstruktiven Austausch, den wir an vielen Stellen schon führen und weiterführen werden. Als Präsidentin der Kultusministerkonferenz freue ich mich sehr darauf, gemeinsam mit Ihnen die Bildung in Zeiten des Wandels und die Transformation mutig und gemeinsam zu gestalten! 

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