„Gegen das Vergessen“ – Zum 80. Jahrestag des 20. Juli 1944

    Von Rüdiger Utikal

    Viele Monate lang hatten Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschworenen eine Gelegenheit gesucht, Adolf Hitler umzubringen. Natürlich war der Führer des Dritten Reichs gut abgeschirmt, oft unterwegs, unberechenbar geworden in der Vielzahl seiner Termine, Lagebesprechungen und wirren Aktionen. Im Juli 1944 schienen sich wieder günstige Möglichkeiten zu ergeben: Am 11. Juli war Stauffenberg auf dem Berghof, Hitlers Feriendomizil in den Alpen, doch dort waren weder Himmler noch Göring dabei – man fürchtete, diese Abwesenheit könne die Staatsstreichpläne gefährden – und unterließ das Attentat dann ganz und gar. Auch am 15. Juli in der Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier in Ostpreußen, war Himmler wieder nicht anwesend. Doch das Attentat konnte auch nicht beliebig oft verschoben werden. Nächste Gelegenheit: 20. Juli …

    Wer waren die Protagonisten dieses Attentatsversuchs am 20. Juli? Natürlich stand Stauffenberg (1907 – 1944) als Ausführender im Mittelpunkt. Die Familie – mit langer militärischer Tradition – prägte den jungen Stauffenberg gewiss, genauso sein Kontakt zu Stefan George (1868 – 1933), dem Dichter und Oberhaupt eines Kreises junger Männer, die geistige Leitung und Orientierung suchten. Seine sprachmächtigen, dunklen Gedichte und sein autoritärer Gestus faszinierten, seine „Gefolgschaft“ sollte ihm unbedingt und ohne Einschränkungen gehorchen. Nach dem Abitur wurde Stauffenberg Soldat und machte schnell militärische Karriere. Den NS-Staat begrüßte er anfangs sehr, er erhoffte Deutschlands „Erneuerung“ und „Wiedergeburt“ – doch schien er eine gewisse Grundskepsis zu bewahren, lehnte das Novemberpogrom im November 1938 schon heftig ab. Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 und der Dilettantismus der Kriegsführung durch Hitler, der sich als unfehlbarer, großartiger Feldherr sah, stießen ihn zunehmend ab. Verbrechen an und hinter der Front taten ihr Übriges. Allmählich festigte sich die Ansicht, dass nur ein Staatsstreich und der Tod der NS-Führungsriege echte Veränderung bringen könnte. Und dann: „Am 7. April 1943 wurde er südlich von Mezzouna […] schwer verwundet, verlor das linke Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken, seine Genesung war zweifelhaft.“ (Hoffmann S. 47) Die Entschlossenheit, nun endlich etwas zu tun, verstärkte sich nach dieser drastischen Verwundung.

    Begleitet wurde dies alles durch eine Gruppe von Militärs, aber auch intensiven Kontakten zu bürgerlichen und adligen Widerstandsgruppen, wie sie sich im Kreisauer Kreis und um Carl Goerdeler (1884 – 1945), den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, sammelten. Dass sich vorher und gleichzeitig schon an vielen Stellen Widerstand gezeigt hatte, soll hier ausdrücklich betont werden. Schon früh gab es solchen Widerstand von sozialdemokratischer und kommunistischer Seite, getragen von Arbeitern. In den Kirchen regte sich bei allem Willen zur Anpassung zum Teil heftiger Widerspruch und öffentliche Gegnerschaft zum NS-Regime. Auch die Jugend – z.B. in der Weißen Rose um die Scholl-Geschwister Hans (1918 – 1943) und Sophie (1921 – 1943) – und Einzelne wie Georg Elser (1903 – 1945) versuchten das Regime zu stoppen – vergebens.

    Was passierte nun an diesem 20. Juli 1944? Stauffenberg flog zur Wolfsschanze. Hitlers Lagebesprechung war auf 12.30 Uhr vorverlegt. Die Aktentasche mit dem Sprengstoff konnte platziert werden, die Explosion war von erheblicher Wucht. Drei Menschen starben, Hitler war nicht darunter. Dies wusste Stauffenberg nicht, als er mit Werner von Haeften (1908 – 1944) nach Berlin zurückkehrte. Schon am Abend des 20. Juli wurden Stauffenberg und Haeften sowie zwei weitere Beteiligte ohne Prozess erschossen. „Die Leichen wurden in der Nacht auf dem Friedhof der Matthäikirche in Schöneberg begraben. Himmler ließ sie am 21. Juli exhumieren, kremieren und die Asche über Felder streuen.“ (Hoffmann S. 96) Im August wurden etwa 200 Personen verurteilt und erhängt. Die weiteren Planungen zum Umsturz konnten nicht realisiert werden, das Regime schien zu triumphieren  – vorerst. Das bittere Ende folgte erst im Mai 1945 – nach weiteren quälenden Monaten des Krieges, nach weiteren Tausenden von Toten auf allen Seiten.

    Was sagt uns dies alles heute, was kann es für die junge Generation bedeuten? Vielleicht können zwei 2024 erschienene Bücher eine Brücke ins Heute bilden.

    Tim Pröse ist den Kindern der Attentäter begegnet, fast alle hochbetagt, naturgemäß mindestens 80 Jahre und älter.  In seinem Buch „Wir Kinder des 20. Juli“ mit dem etwas sperrigen Untertitel „Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte“ schildert er persönlich und durchaus auch emotional diese Begegnungen, führt Interviews und schlägt so diese familiären Brücken in die Gegenwart. Stauffenbergs Sohn Berthold (Jahrgang 1934) zum Beispiel kommt ausführlich zu Wort, sein Lebensweg führte ihn in die Bundeswehr, er war Generalmajor. Er erzählt über seinen Vater – eindrücklich, sehr persönlich. Stauffenberg wird als liebevoller Vater erfahrbar, der sein Leben einsetzte, um dem verbrecherischen Regime ein Ende zu setzen, nachdem er gezögert hatte – unter anderem wegen des Eides, den er als Soldat er auf die Person Hitler geschworen hatte. So wird Stauffenberg als Mensch hinter dem Attentäter sichtbar – und auch, welche Rückschlüsse die Kinder aus dem Geschehenen zogen. Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, resümiert: „Ein Erfolg seiner Tat, so viel ist sicher, hätte viele Menschen vor dem Tod bewahrt. Stauffenberg wollte die Deutschen von Hitler befreien; danach hätten die Überlebenden ohne Zweifel schwer um die Ausrichtung eines Nach-Hitler-Deutschlands gerungen. Was das Resultat gewesen wäre, wissen wir nicht. Stauffenberg allerdings zum Symbol des undemokratischen Rückwärtsgewandten zu machen, weil er aus den Horizonten seiner Zeit handelte, wäre unhistorisch. Und ebenso leichtfertig ist es, ihn zum Bannerträger unserer freiheitlichen Grundordnung zu erhöhen, die Resultat der militärischen Niederlage Deutschlands war.“ (Pröse S. 214)

    Und da sind wir beim zweiten empfehlenswerten Buch: Ruth Hoffmann geht unter dem Titel „Das deutsche Alibi“ der Verklärung und Instrumentalisierung des 20. Juli 1944 und der Person Stauffenberg seit 1945 und bis heute nach. Sie widmet diese Buch allen, „die nicht weggeschaut haben“, und zeichnet so spannend wie differenziert nach, wie Stauffenberg im Wechsel der politischen Zeitläufte beurteilt und auch zum Mythos stilisiert wurde und wird. Verräter oder Held, aristokratischer Einzeltäter oder nur ein „Beliebiger“ unter denen, die Widerstand leisteten – bis heute hält der Meinungsstreit an und ist verwoben mit den Bewertungen der deutschen Geschichte von links und rechts. In ihrer Einleitung schreibt Ruth Hoffmann: „Wie wir das Ereignis des ,20. Juli‘ heute beurteilen, ist kein gesellschaftlicher Konsens, sondern das Produkt einer wechselvollen Entwicklung voller Widersprüche, empörender Vereinnahmungen und beschämender Versäumnisse.“ (Hoffmann S. 13)

    Schauen wir also genau hin! Es lohnt sich.

    Literatur:

    Peter Hoffmann, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Verlag C.H.Beck. München ²2007

    Ruth Hoffmann, Das deutsche Alibi. Mythos „Stauffenberg-Attentat“ – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird, Wilhelm Goldmann Verlag. München 2024

    Tim Pröse, Wir Kinder des 20. Juli. Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte, Wilhelm Heyne Verlag. München 2024

     

    Rüdiger Utikal ist Studiendirektor, Lehrer für Deutsch und Geschichte am Max-Planck-Gymnasium in Schorndorf, Fachberater und Lehrbeauftragter am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte Esslingen (Gymnasium). Ab 1.8.2024 i.R.

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