Orientierung im Raum und Orientierung mit dem Raum

    Ein Essay zur komplexen Bedeutung einer (nicht nur geographischen) Kompetenz

    von Hon.-Prof. Dr. Fritz-Gerd Mittelstädt

    Wenn die Geographie, die als Wissenschaft und als Unterrichtsfach zum Umgang mit Räumen befähigen will, über die Erde und ihre Gebiete spricht – und das gehört zur geographischen Orientierung – befasst sie sich mit deren Lage und ihren Lagebeziehungen. Sie muss sich aber darüber hinaus mit einer weiterreichenden Frage beschäftigen wie: Wer spielt eine entscheidende Rolle und wer verknüpft Interessen bei und mit Bedeutungszuweisungen an einzelne Räume und deren Lage? Diese Frage ist wieder aktuell!

    Eine solche Auseinandersetzung verlangt zunächst als Basis geographischer Bildung die Fähigkeit zur Orientierung im engeren, landläufigen Verständnis auf der Erde im Sinne eines methodischen Könnens mit dessen Möglichkeiten. Sie reicht von der weltweiten Verortung mit Hilfe des Gradnetzes bis hin zur topographischen Orientierung im lokalen Umfeld; sie umfasst sachgerechte Vorstellungen von räumlichen Dimensionen auf dem Globus wie auch faktenbasierte Einblicke in dessen globale Zonierung und seine azonalen Raummerkmale; sie erfordert einen zielführenden Umgang mit Karten unterschiedlicher Art und weiteren Formen und Absichten der Geovisualisierung. Neben dieser primären Orientierung führt die Geographie zu einem Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen und Beeinflussungen als Grundlegung für eine geoökologische Bewusstseinsbildung; sie verlangt die Auseinandersetzung mit kulturräumlichen Erscheinungsformen in unterschiedlichen und sich wandelnden Spannungsfeldern. Über räumliche Erscheinungsformen können in unterschiedlichen Maßstabsebenen divergierende Raster zur Orientierung im Raum gelegt werden.

    Und nun schafft die Geographie über diese primäre Orientierung im Raum eine Orientierung mit dem Raum auf einer höheren Stufe der geographischen Bewusstseinsbildung und der kulturell-emanzipatorisch fundierten Handlungskompetenz für einen verantwortungsvollen Umgang im und mit dem Raum. Diese Zukunftsorientierung erhält mit der doppelten Orientierung einen über die geographische Bildung im engeren Sinne hinaus reichenden Auftrag.

    In diese Orientierung mit dem Raum fließen die Folgen des cultural turn ein, der zu einem neuen räumlichen Blick in Verbindung mit multiperspektivischen Bedeutungszuweisungen an den Raum als Kategorie bzw. an Räume in ihrem tatsächlichen und konstruierten Vorhandensein veranlasst. Zu den fachlichen allgemeinen und elementaren geographischen Kenntnissen gehören z. B. die Geozonen und – immer noch – die Kulturerdteile. Auf der Grundlage der Kenntnis dieser räumlichen zonalen bzw. azonalen Gliederung kann überhaupt (erst) eine Vorstellung von möglichen und anderen denkbaren Ordnungen der Erdoberfläche bzw. von Orientierungen darauf vermittelt werden. Die »Eroberung« der Welt findet, wie es der junge Alexander von Humboldt ausdrückte, im Kopf statt. Nun ist inzwischen wissenschaftlich anerkannt, dass die Grenzen und Merkmale der Geozonen großen Wandlungen unterworfen sind. Auch sind die Kulturerdteile wie Europa längst nicht mehr geschlossene Räume; letztere befinden sich vielmehr in einer Auflösung bzw. gegenseitigen Durchdringung, so dass sie allenfalls noch fragmentiert auftreten. Mit der Mobilität und Migrationen von Menschen sind auch kulturräumliche Merkmale transferiert worden. Es gilt also die tatsächlichen und vermeintlichen räumlichen Vorstellungen bzw. Konstrukte von natürlichen und anthropogenen Strukturen auf der Erde einer Überprüfung zu unterziehen, sie zu dekonstruieren und an deren Stelle Vorstellungen von neuen räumlichen Ordnungen treten zu lassen; dabei muss berücksichtigt werden, welche ökologischen und ökonomischen, sozialen und politischen Interessen zur Zeit und künftig aus den Perspektiven unterschiedlicher Akteure zu neuen Bewertungen von Räumen führen.

    Als deren Folgen sind oft Modifikationen in der Orientierung im Raum vonnöten. Natürlich bewahren Orte und Räume zumeist ihre geographische Lage; dennoch ergeben sich Wandlungen in Raumnutzungen und Lagebeziehungen von Orten und Gebieten mit Konsequenzen für die Orientierung im engeren Sinne.

    Im Rahmen topographischer Bestimmungen im Sinne einer Orientierung im Raum führt die Beschäftigung mit den an sich problemlos verstandenen Himmelsrichtungen zu einem neuen Ansatz und Bewusstsein im Sprechen über die Erde. Was (der) Westen ist, ist klar definiert: dabei handelt es sich um die westliche Erdhälfte zwischen dem 0ten Längenkreis und dem 180ten Längenkreis im Westen. Für viele von uns Mitteleuropäern reicht der Ferne Osten bis zur Tschuktschen-Halbinsel im Nordosten Asiens, die aber nach der Lage im Gradnetz der Erde zum fernsten Westen gehört. Den Westen gibt es auch im Osten – als Teil des disjunkten Areals der weltweiten Verräumlichung einer Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wird der Süden je nach Perspektive und Interesse, in Abhängigkeit von Zeit und Raum der Bewertenden ganz unterschiedlich gesehen; die Einen sprechen vom Sehnsuchtsraum, die Anderen von einer Zone der »Unterentwicklung«. Die Antarktis liegt ebenso im Süden wie die südliche Nordsee, die als solche touristisch vermarktet wird. Süden ist Süden und doch in Abhängigkeit von Interessen und Raumbewertungen immer wieder anders südlich. Oft wird vom Osten negativ gesprochen, obwohl sich aus europäischer Perspektive im Osten der Ursprung der Kultur finden lässt (ex oriente lux). Für manche Mitteleuropäer mag der Norden als kalt und unwirtlich gelten; für viele Afrikaner ist der Weg in den Norden dem gegenüber mit Hoffnung auf Überleben in Frieden und ohne Hunger verbunden. Diese einfachen Überlegungen zeigen die Notwendigkeit des differenzierten Sprechens über Räume als eine Form der Orientierung mit dem Raum, die als Metaebene der Orientierung eine zweite höherwertige Funktion erhält, zumal wenn es um Verfügungsansprüche über Räume aus ökonomischen, ethnischen, religiösen und machtpolitisch-strategischen Interessen geht oder wenn aus Räumen Regionen der persönlichen und existentiellen Betroffenheit werden.

    Diese geographische Orientierung auf einer Metaebene umfasst nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit geographischen Namen. In ihnen sind nicht nur Verortungen und Lagebeziehungen enthalten; sie machen auch oft unterschiedliche Blickwinkel wie Raumansprüche und Verfügungsintentionen deutlich. So kommt es, dass für eine Örtlichkeit oder einen Raum unterschiedliche Namen verwendet werden.

    Strukturwandlungen lösen ebenfalls Veränderungen in Raumwahrnehmungen und Bedeutungszuweisungen an Räume aus und beeinflussen die Orientierung. Wenn diese doppelte Orientierung in und mit dem Raum immer wieder Ordnung in die Welt bringen will bzw. soll, dann sind Voraussetzungen zu erfüllen. Wissen von der Erde ist ebenso erforderlich wie die systemar denkende Auseinandersetzung mit Konstruktionen von räumlichen Ordnungssystemen in ihrem Wandel. In diesem Kontext sei der Krieg in der Ukraine als ein Beispiel dafür genannt, wie kontroverse Ansprüche und staatliche Zuordnungen bezogen auf einen in seiner geographischen Lage unveränderten Raum das Leben der autochthonen Bevölkerung nachhaltig und existentiell beeinflussen und zugleich auf der Metaebene der politischen Orientierung seit zwei Jahren den internationalen Dialog und gleichzeitig die Entwicklung militärischer Strategien bestimmen. In der Folge ergibt sich in der internationalen Orientierung ein krasser Widerspruch, da einerseits schon länger die Halbinsel Krim faktisch zur Russischen Föderation gehört, während sie andererseits in Karten in der westlichen Staatengemeinschaft immer noch integraler Teil der Ukraine ist. Deren staatliche Zugehörigkeit sieht Russland anders als die westliche Staatengemeinschaft. Auch Wissen um die lokale bzw. regionale Welt – um den Maßstab der Betrachtung zu vergrößern – ist eine Voraussetzung, wenn es um die Lösung von Konflikten geht, die aus unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen an ein und den gleichen Raum resultieren: eigene und individuelle Rauminteressen und -wahrnehmungen stimmen oft nicht mit Raumnutzungskonzepten überein, die aus sozialem, ökonomischem oder ökologischem und politischem Interesse erwachsen. Hier können Umorientierungen im Raum die Folge einer Neuorientierung mit dem Raum im Spannungsfeld von individueller Betroffenheit und gesellschaftlicher Projektion unausweichlich werden.

    Immer ist kommunikative Kompetenz gefordert, denn Orientierung im Raum und Orientierung mit dem Raum geht mit Sprechen über den Raum einher. Dennoch trägt nicht immer die medial vermittelte Orientierung den Anforderungen an kommunikative Klarheit und Eindeutigkeit Rechnung. Sie greift dagegen vielmals oft umgangssprachliche und nicht immer reflektierte Verbalisierungen zur Orientierung auf, die lediglich eine vermeintliche Treffsicherheit beinhalten. Bei einer Einordnung in historische, architektonische, soziale und ökonomische Zusammenhänge entpuppt sich der zunächst wertneutrale Begriff Land (im Gegensatz zur Stadt) als Begriff zur Orientierung sowohl im als auch mit dem Raum als unterschiedlich bedeutungsgeladen. Vielfach gehören im Bewusstsein wie auch in Raumordnungsprogrammen zum Land strukturschwache Gebiete, deren Infrastruktur mit Fördermitteln ausgebaut werden soll. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie mit verstärkten beruflichen Tätigkeiten im home office eröffnen sich für das Land neue Chancen als Zukunftsraum, als stadtferner Wohn- und zugleich Arbeitsort unter im Vergleich günstigeren Bedingungen für den Lebensunterhalt, was Kosten für Wohnen und Einsparungen durch geringere Ausgaben für Mobilität ebenso betrifft wie weniger belastende Umwelteinflüsse. Das Land kann an Attraktivität gewinnen, wie es schon in der Vergangenheit ein Sehnsuchtsraum war. So wurde der Traum vom Lande etwa in der villeggiatura verwirklicht; für die sommerliche Erholung auf dem Lande wurden wie in Venetien Villen errichtet, die die Landschaft ästhetisierend ordneten. So äußerte sich die Orientierung mit dem Raum saisonal, architektonisch, raumordnerisch und im räumlichen Verhalten von Angehörigen einer privilegierten Stadtbevölkerung.

    Weil sich Orientierung auch immer mit der Bedeutung von Räumen kommunikativ auseinandersetzt, ist darunter mehr als die Bestimmung von Orten und das Aufsuchen von Zielen mit Hilfe einer Navigationssoftware zu verstehen. Orientierung ist eine Kompetenz, die über das Lesen von Monitorbildern mit abgebildeten Streckenführungen hinausgeht. Orientierung ist eine geistige Aktivität, die räumliche Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit und Komplexität erfasst; sie führt zu Erkenntnissen im Spannungsfeld von eigenen und fremden Bedeutungszuweisungen an Räume; sie setzt sich außer mit Lagebestimmungen und Lageverflechtungen mit vergangenen, gegenwärtigen und prognostizierten Kontinuitäten und Veränderungen in der Bedeutung und Funktion von Räumen auseinander; dabei setzt sie das eigene Aktionsfeld mit übergreifenden Einordnungen in Raumgefüge unterschiedlicher Maßstabsdimensionen in Beziehung.

    Wenn man von Europa spricht, dann kann man von ihm als Kulturerdteil oder als Kontinent im Sinne des westlichen Teils von Eurasien reden, der von Portugal im Westen bis zum Ural im Osten und von Lampedusa im Mittelmeer bis zum Nordkap reicht; die Eingrenzung auf Kontinentaleuropa schließt die Britischen Inseln und Island aus. Spricht man von Europa als politischem Konstrukt, dann kann – auf die Vergangenheit bezogen – von der EWU oder der EG gesprochen werden; findet der Begriff Verwendung EU, dann sollte geklärt sein, ob der Raum vor oder nach dem Brexit gemeint ist. Andere Bedeutungen werden Europa mit dem Schengen-Raum und dem Zahlungsmittel Euro zugewiesen. Der Raumbegriff Europa ist weit davon entfernt, Eindeutigkeit und Identität als Merkmale eines sprachlichen Zeichens aufzuweisen, in dem Raum (signifié) und Begriff (signifiant) eine Einheit bilden. Umso schwieriger ist es, von dem Europa der Zukunft zu sprechen. Welche Orientierungen bilden die Grundlagen für die Utopie zur Gestaltung eines Großraumes der Erde, in dem Lebensformen aus den Bedingungen der physischen Vielfalt und der kulturellen Diversität erwachsen? Und der Einsatz für ein künftiges Europa in der Welt setzt Kompetenzen voraus, zu denen das Wissen von und um Europa ebenso gehört wie die Orientierung in und mit dessen Räumen und die Orientierung nach Werten im Kontext einer politischen Bildung. So lässt die doppelte, ja sogar dreifache Orientierung aus existentiellen Räumen zugleich essenzielle Räume werden – vor Ort, in Europa, in der weiten Welt.

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